Spiegel: Tabakkonzerne ziehen neue Süchtige heran

am 8. August 2019

Tabakkonzerne

Liebe Leserin, lieber Leser,

mir ist es nicht anders ergangen als vielen von Ihnen. Als ich 16 Jahre alt war, wollte ich auf dem Schulhof dort stehen, wo die coolen Leute waren. Das war die Raucherecke, und die begann keinen Meter außerhalb des Schulgeländes. Ich fühlte mich da auf Anhieb wohl und tat so, als würden mir die Zigaretten schmecken. Bei den Partys das Gleiche: Wer rauchte, war cooler; einer meiner Mitschüler rauchte eine Mentholzigarette namens Cool, und das war irgendwie am allercoolsten.

So begann meine Suchtkarriere. War es meine Schuld, Raucher geworden zu sein? Vielleicht. Es hatte mich ja niemand dazu gezwungen. Aber heute denke ich anders. Die Tabakindustrie verwendet enorme Ressourcen darauf, junge Nachwuchsraucher zu gewinnen, denn sie weiß: Wer mit spätestens 25 nicht angefangen hat, wird dies nie tun. Die Jüngeren sind ihre Zielgruppe, sie gilt es anzufixen.

In meiner Kindheit, ich bin Jahrgang 1966, hüpfte das sehr kindgerechte HB-Männchen durch das Fernsehprogramm, und der Marlboro-Mann ritt noch ewig über die Leinwand. Das Camel-Kamel fand ich toll. Ein West-Werbeplakat hat mir so gut gefallen, dass ich die Firma anbettelte, mir eines als Tapete für mein Jugendzimmer zu schicken. Mein Wunsch wurde freundlicherweise erfüllt.

Später gab es Raucherkinos, Raucherabteile, in jeder Disco wurde geraucht, auch in jeder Kneipe, und schöne Mädchen verteilten bei Promo-Aktionen Umsonstzigaretten in der Innenstadt.

Bloomberg via Getty Images

Bloomberg via Getty Images

In Wahrheit war es in der damaligen Welt für Kinder und Jugendliche sehr schwer, den Tabakherstellern zu entgehen. Und die Erwachsenen sprangen uns auch nicht zur Seite. Niemand hinderte die Tabakkonzerne daran, sich immer neue Fallen auszudenken.

Die Light-Zigarette war so eine. Laut Werbung war sie besonders nikotin- und teerarm, also viel weniger schädlich, weniger süchtig machend. Spaß ohne Reue. Mit der kann man nicht so viel falsch machen, das dachte ich, und Sie dachten das vielleicht auch. Tatsächlich hat es eine risikoarme oder auch nur risikoreduzierte Leichtzigarette nie gegeben. Die Hersteller wussten das. Wir nicht.

Mit 33 Jahren habe ich, nach etlichen Anläufen, endlich aufgehört. Es war sehr schwer, aber es hat geklappt. Jetzt bereue ich, je geraucht zu haben, denn im Ernst: Was hat mir Tabak als Substanz eigentlich gebracht? Gar nichts. Höchstens die kurzzeitige Linderung meiner Entzugserscheinungen. 70 Prozent der Raucher wollen weg von den Zigaretten, sie schaffen es aber nicht. Sucht ist die Basis für ein überaus einträgliches Geschäftsmodell, in dem Faktoren wie Kunden- und Produktzufriedenheit, selbst Anwendungssicherheit, schlicht keine Rolle mehr spielen.

Seither hat sich allerhand getan. Überall in der EU gilt ein Tabakwerbeverbot – mit nur einer Ausnahme: Deutschland. Bedanken Sie sich dafür bei Volker Kauder, der bis September 2018 der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vorgesessen hat. Es besteht ein Rauchverbot in der Gastronomie und an den meisten Arbeitsplätzen. Kinder können nicht mehr problemlos am Automaten Zigaretten ziehen. Viele Schlachten wurden gewonnen, aber der Kampf ist längst nicht vorbei. Als Gesellschaft müssen wir auf der Hut bleiben.

Die Zahl der jugendlichen Raucher sinkt seit Jahren – aber die der jungen Nikotinabhängigen steigt zumindest in den USA wieder rapide. Schuld daran ist vor allem eine Firma: Juul Labs aus San Francisco. Seit 2015 stellt sie eine E-Zigarette namens Juul her, einen hübsch anzusehenden Verdampfer nikotinhaltiger Flüssigkeiten mit poppig bunt gestalteten Aromen wie „Mango“, „Cool Cucumber“ oder „Menthol“. In den sozialen Netzwerken aggressiv beworben, wurde das Produkt unter Minderjährigen ein Sensationserfolg: Viele Millionen Highschool-Schüler „juulen“ täglich; ihre Zahl ist von 2017 bis 2018 um 78 Prozent gestiegen.

Dies ist in hohem Maße beunruhigend. Weil Juul extrem viel Nikotin enthält, macht es besonders schnell abhängig. Vor allem aus diesem Grund dürfte sich der Tabakkonzern Altria („Marlboro“) unlängst mit fast 13 Milliarden Dollar an dem Start-up beteiligt haben. Altria weiß, dass sich unter Nikotinsüchtigen am leichtesten neue Zigarettenraucher rekrutieren lassen.

Wie konnte das passieren? Warum ließen Eltern, Schulen, Behörden, Ministerien und Parlamente das zu? Hat denn niemand aus der Geschichte gelernt, dass Millionen Menschen früh sterben, wenn die Gesellschaft Nikotinkonzernen freie Bahn lässt?

Mittlerweile beteuern Juul-Manager, keine Jugendlichen mehr anzusprechen; die Firma konzentriere sich auf erwachsene Raucher, die statt Tabak lieber eine risikoärmere E-Zigarette nutzen. Aber wer soll ihnen das glauben? Juul ist, immerhin geringer dosiert, seit etwa einem halben Jahr auch in Deutschland erhältlich. Rasch will die Firma weiter expandieren. Unterdessen geben US-Ärzte zu bedenken, dass Juul neben Lungenschäden auch Herzinfarkte und Schlaganfälle verursachen könnte. Suchtmediziner berichten von sehr stark abhängigen Teenies, deren soziale Entwicklung Schaden genommen habe.

San Francisco versucht nun, den Verkauf von E-Zigaretten an Jugendliche und an erwachsene Raucher ganz zu unterbinden. Applaus dafür. Auch die Weltgesundheitsorganisation WHO stellt sich gegen E-Zigaretten in jeder Form. Meiner Meinung nach sind Zigarettenkonzerne immer der Ursprung des Problems; wenn sie sich mit neuen Nikotinprodukten wie E-Zigaretten als Teil der Lösung anpreisen, glaube ich ihnen kein Wort. Und Sie?

Herzliche Grüße

Marco Evers

 

240px-Spiegel-Online-Logo.svg

Original Artikel : https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/rauchen-tabakkonzerne-ziehen-neue-suechtige-heran-a-1279912.html

RekardoSpiegel: Tabakkonzerne ziehen neue Süchtige heran